Eine Beleidigung ist erst dann eine Beleidigung, wenn man sie sich zueigen macht. Solange eine Beschimpfung abperlt, handelt es sich um einen bloßen Beleidigungsversuch – ohne innere Resonanz bleibt sie unvollständig, misslingt sie. Weshalb das Gehampel der Beleidigt-Beleidigenden umso unansehnlicher wird, je weniger sie gehört werden.
Weil sich aber der nicht total verbretterte Mensch befragt und bearbeitet, schenkt er auch abwegigen Beleidigungsversuchen gelegentlich ein Krümelchen Kredit. Könnte dieser Vorwurf vielleicht stimmen? Bin ich wirklich so, mache ich dieses oder jenes?
Wenn ich einen Text von Diedrich Diederichsen lese, passiert mir das leider häufiger. Versuchte Beleidigungen sind nämlich eine seiner unverzichtbare Zutaten, im Tonfall wie in Worten. Die Welt erscheint ihm geteilt in gut und böse – wenn auch (selbstverständlich!) nicht in der von ihm besonders hart angegangenen, hollywoodesquen Form. Was von Adornos Parole »Es gibt kein gutes Leben im falschen« aber trotzdem übrig bleibt, ist genau das: die Unterscheidung von gut und böse selbst. Und natürlich die Position des Beobachters, der diese Unterscheidung beobachtet und sich schon insofern auf der richtigen Seite zu wissen glaubt.
Etwas konkreter: Im Vorwort seiner im Frühjahr erschienenen, unbescheiden »Das 21. Jahrhundert« betitelten und 1.100 Seiten schweren Essaysammlung lesen wir zum Beispiel Folgendes:
„Eine aktuelle Verbindung [zwischen Emanzipation von und Unterwerfung unter die Verhältnisse] ist eben auch die zwischen Bewusstseinserfolgen bei westlichen, privilegierten Jugendlichen und der gleichzeitigen parafaschistischen Kapitulation großer Teile der Bevölkerung desselben Westens vor einer in jeder Hinsicht unsicheren Zukunft.“
Da habe ich den Kleinbürgern doch mal wieder ordentlich einen eingeschenkt, denkt sich Professor Diederichsen und gießt sich einen schönen, von den österreichischen Staatsbürger:innen bezahlten Wein ins Glas. Auch ich muss schlucken: oha. Bin ich etwa parafaschistisch, weil ich vor der unsicheren Zukunft kapituliere? Hoffentlich nicht. Aber naja, irgendwie kapituliere ich doch? Aber wie kapituliert man eigentlich vor etwas, das noch gar nicht stattgefunden hat? It’s complicated.
Kompliziert ist vor allem seine Sprache, und es ist dieser »Stil der Arroganz«, jene »flamboyante Kompliziertheit«, die den größeren Beleidigungsversuch darstellt. Die Leser:innen werden zum Medium eines »intellektuellen Posierens«, um »sein eigenes Wissen zu zeigen und gleichzeitig das Nicht-Wissen der anderen aufzudecken« (alle Zitate von Nadja Geer). Hinzu kommt die Herablassung gegenüber den falschen, minderen Seh-, Lese- und Denkgewohnheiten der Unwissenden. Hören wir noch mal rein, falls Sie, liebe:r Leser:in, diesen Klang nicht kennen:
„Statische, zirkuläre, repetitive, inflationäre, entropische und anderweitig krisenhafte Formen von Erzählung und Anti-Erzählung gefallen mir nicht nur, weil ihre Formen der, nennen wir sie: Struktur unseres historischen Momentes besser entsprechen, sondern weil sie nicht ständig neurotisch und schuldbewusst vom Stoff der Epoche ablenken wie das ewige Erzählen und vor allem wie das spezifische Erzählen von Verursachung, Intention und verstricktem Subjekt. Ich erhole mich in sogenannten postdramatischen Theaterstücken der verschiedensten Art von genau der Tyrannei der Narration, der dauernden Inszenierung und Entschlüsselung von sinnvoller und intentionaler Handlung fiktiver Personen, die den Rest unseres kulturellen Alltags bestimmen. Dieses beständige Ausbuchstabieren von Intention und Konsequenz ist eng verbunden, ja ko-extensiv mit den eigentlich obsoleten Formaten der Kulturindustrie, den Formaten »Spielfilm« und »abendfüllend« oder »LP« und »Doppel-LP.«“
Man könnte das alles durchaus einfacher und zugänglicher sagen – und zwar ohne schwerwiegenden Bedeutungsverlust (auch wenn alle Poststrukturalist:innen jetzt naturgemäß (herrje, er schreibt auch noch »naturgemäß«) den Finger heben). Wer aber wie Diederichsen traditionelle Erzählformen ablehnt, muss diese Ablehnung selbstredend auch auf das eigene Schreiben anwenden und andere Wege finden. Nicht ohne meine Distinktion – sprach der Silberrücken, während er sich durch die Augen eines anderen lobte: „In kulturtheoretischen, urbanistischen oder feministischen Texten mitsamt deren spezifischer Neigung zum Jargon fand [der Theaterautor und -regisseur René] Pollesch genau die fremd-antiauthentische Stimme, mit der Subjekte heute noch angemessen von sich sprechen können.“
Das Narzisstische an dieser »angemessenen« Art zu reden hat Jörg Fauser schon 1983 am 26-jährigen Diederichsen ausgemacht. Letzterer sei einer jener Autoren, die „sich selbst wichtiger nehmen als den Gegenstand ihrer Betrachtung. Sich selbst, damit meine ich: ihr Spiegelbild im lauen Bad ihrer Sätze… Wenn ich Diederichsen lese, muß ich unwillkürlich an Orwell denken, von dem der Satz stammt »Gute Prosa ist wie eine Fensterscheibe« (vermutlich wie eine, durch die man hindurchblicken kann), und der natürlich die semiotische Katastrophe dieses Jahrhunderts lange vor Diederichsen erkannte und sie in 1984 so geschildert hat, daß auch Nichtakademiker sie verstehen können.“
Anspruchsvoller, schwieriger Text ist aber immer noch was anderes als Herablassung und Beleidigung. Wenn Design die beobachtbare Summe getroffener Entscheidungen ist, fallen die von Diederichsen im Zweifel zugunsten seines eigenen Autorennamens. Die oftmals guten und unterhaltsamen (gerne auch: simplen) Beobachtungen, die nicht dem Selbstmarketing dienen, schwimmen leider in einer trüben Selbstsuppe; man muss sich schon anstrengen, um sie herauszufiltern. Auch die Vorstellung, dass hochnäsige Polemik eine brauchbare politische Form sei, wirkt im 21. Jahrhundert einfach verkehrt. Da hilft nur: beiseite legen. Leute mit seinem Output und seiner Reichweite werden einem sowieso wieder irgendwann von irgendwoher in den Feed gespielt.