In den aktuellen Sendungen des Instagram-Kanals von Rainald Goetz, 71, sind die Träume des Schriftstellers ein wiederkehrendes Motiv. Für gewöhnlich tauchen sie sie als Nacherzählung von Nachtbildern auf, am 27. Mai aber geht es um einen Tagtraum vom Anfang seiner Karriere. Er berichtet da von einer Begegnung und einer Sehnsucht, die er als 29-jähriger hatte:
Ende April 1983 stellte mir Michael O.R. Kröher im Vienna in Hamburg Diedrich Diederichsen vor, und Diedrich war dort mit Albert Oehlen und Werner Büttner im Gespräch, dadurch ich auch, und dann saß ich später, in den frühen Morgenstunden, mit Nicola Reidenbach auf einer Parkbank und wir hörten, herrlich beschwingt, dem aufgeregten Gezwitscher der Vögel zu –
Teil einer Künstlergemeinschaft zu sein, Traum, der da wahr zu werden anfing in diesen damaligen Tagen –
Namenskaskade und Satzfragment riefen mir die Kritk in Erinnerung, die Julia Encke im letzten Jahr in der FAZ anlässlich des Erscheinens von Goetz’ Büchern wrong und Lapidarium geschrieben hatte. Und mit ihr dieses dumpfe Gefühl, vielmehr die Frage: warum lese ich Goetz eigentlich nicht mehr so gern wie früher? Obwohl er doch weiterhin zuverlässig grandiose Beobachtungen liefert, die niemand sonst so hinkriegt?
Encke beschwert sich u.a. darüber, dass Goetz, die Materialität von Zeitungsseiten und Zeitschriften zelebrierend, mittlerweile auf den »Inhalt« von Texten pfeife:
Interessanterweise scheint dabei egal zu sein, was draufsteht auf der Seite. Scheint sich mit der Feier des Ereignisses, der Geburt des Wortes auf Papier die Bedeutung zu erübrigen. Es geht inzwischen um den Geist als Geist bei Goetz. Und darum, dabei zu sein.
Auch wenn Enckes Mäkelei einige Kontexte außer Acht lässt, teile ich ihr Kopfschütteln angesichts dieses Dabeisein-Wollens. Aber eben nicht in der Rolle eines professionellen Kritikers, sondern als einfacher Leser, der sich außerhalb der Goetzschen Künstler-/Geistesgemeinschaft findet.
Goetz reflektiert in seiner Rede »SOZIALE ENERGIE«, die er im Wissenschaftskolleg Berlin anlässlich des Erscheinens eines neuen Heftes der Zeitschrift für Ideengeschichte hält, das Verhältnis von gedruckter Schrift und den zugehörigen Autor:innenkörpern. Er bejubelt einerseits die dinghafte Schönheit von Zeitungen, Zeitschriften etc., andererseits die transformative Kraft, die der momenthaften Bildung der elitären Schreibergemeinde vor Ort entspringt.
Die in den Texten gespeicherte Hysterie wird hier [an diesem Ort, diesem Abend, R. B.] so vergesellschaftet, daß sie in die Hysterie der menschlichen Begegnungen übergehen kann, bis die Texte selber überflüssig werden, die Worte Fleisch geworden sind, das ist eigentlich der Idealvorgang. Weil es die Zeitschrift gedruckt gibt, braucht man sie nicht zu lesen. Zu diesem seltsamen Paradox komme ich immer wieder, wenn etwas fertig ist. Es geht nicht darum, daß die Leute das lesen, was man schreibt, sondern daß es DA ist, gedruckt, veröftentlicht, kaufbar, daß es die Sache Druckwerk, die Zeitschrift, das Buch, als reales Objekt gibt, das jetzt in seiner hochheiligen Dingizität stellvertretend steht für all das, was es an Leben, Ideen und Schrift gewordenen Gedanken in sich aufgenommen hat. Ein Abend ohne Ideen, ein Abend der Dinge und Menschen.
Ideen sind die Steigbügelhalter für Gruppenbildung, Texte haben Zweck und Aufgabe mit ihren Erscheinen erfüllt: die Genese einer Gemeinschaft, die sich im Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift bezeugt. Drucklegung ist Autoritätskonstitution – der einstmals so genannte Pop-Autor kann die schon dort praktizierten distinktionsgetriebenen Ausschlussverfahren mühelos ins wissenschaftliche Milieu mitnehmen. Denn im Heft zu sein bedeutet, dass die Schreibenden die eigentlich wichtige Frage – wie komme ich rein in den Club? – jeweils schon erfolgreich beantwortet haben.
Als Leser gucke ich so fasziniert wie angewidert zu. Wie jetzt, alles für die Clique? Ja was denn sonst! Wieder mal ertappe ich mich in meiner eigenen Naivität und dem ärmlich strampelnden Bedürfnis, als einfacher Zuschauer bedacht zu werden. Dabei sind wir Leser doch nur, allerhöchstens, kleine Schüler dieser großen Denker – wie es Markus Lüpertz, Maler, ehemaliger Rektor der Kunstakademie Düsseldorf und verwandter Silberrücken, im von Goetz am 15.6. verlinkten Interview in aller Klarheit formuliert:
Diese großen Künstler, die zusammenkamen, haben dann eben andere inspiriert […] Das war der Witz, wir sind Meister und die Schüler waren Nebensache. Sie konnten dankbar sein, wenn sie in einen Olymp kamen, wo Künstlerinnen und Künstler sich inspirierten und unterhielten.
Wieder lande ich beim Zitat von Friedrich Kittler, 1980, der den Blick weg vom Sinn und hin auf die soziale Selbstbehauptung, lenkt:
Wo es nichts zu verstehen und nichts zu deuten gibt, vor einer Menge von Abfällen ist es das Erste, Ordnung zu machen. Unbewußte Phantasien, signifikante Oppositionen, Heiratsregeln der Wilden – sie werden artikuliert. Was zählt, ist die Relevanz oder Pertinenz in einem Puzzlespiel, nicht die Bedeutung in einer Welt.

Abfall für alle, Credits für mich und meine Sippe. wrong und Lapidarium lesen sich auch deswegen immer wieder so unangenehm, weil Goetz seine Texte mit Feuilleton-Namen sättigt, um deren Autorität heraufzubeschwören und sich im selben Zuge argumentbefreit in die illustre Geist-Society hineinzuschreiben, die er, der Körzdörfer des Suhrkamp-Klientels, als ihr Yellow Press-Reporter überhaupt erst fabriziert.
Adorno
Albert Oehlen
Andreas Maier
Benedikt Taschen
Benjamin Henrichs
Benjamin Lebert
Benjamin von Stuckrad-Barre
Bert Rebhandl
Beuys
Bodo Kirchhoff
Brecht
Christa Wolf
Christian Kracht
Christoph Amend
Claudius Seidl
Daniel Eschkötter
Diedrich Diederichsen
Dieter Wellershoff
Dietmar Dath
Dirk Kurbujweit
Dirk von Lowtzow
Don DeLillo
Duchamp
Eckart Lohse
Egon Friedell
Elfriede Jelinek
Frank Schirrmacher
Franz Xaver Kroetz
Friedman
Gerhart Polt
Goethe
Gottfried Benn
Greenblatt
Grisham
Günter Bannas
Hacks
Hans Mayer
Hegel
Heiner Müller
Helge Malchow
Harald Schmidt
Helmut Dietl
Herbert Achternbuch
Hofmannsthal
Ibsen
Ivan Nagel
James Woods
Joachim Bessing
Joachim Kaiser
Jochen Distelmeyer
Judith Schalansky
Krebber
Lessing
Lukrez
Mann
Maxim Biller
Michael Skasa
Michel Houellebecq
Moritz von Uslar
Navid Kermani
Nietzsche
Luhmann
Handke
Peter Szondi
Peter von Becker
Rauch
Schinkel
Schlingensief
Siegfried Unseld
Sloterdijk
usw.
Das alles ist herrlich eitel, also i. d. R. wahnsinnig unterhaltsam – beste BUNTE GALA. Bis sich irgendwann doch die Argumente anschleichen, das Spielfeld der geschützten Nickligkeiten ausfranst und die eklige Kehrseite dieser sozialen Wirklichkeit auftaucht. Wenn man z. B. unangenehm daran erinnert wird, dass Ulf »Poschi« Poschardt (dessen Doktorvater Friedrich Kittler war) Goetz’ Freund ist und bleibt, egal, was er an Widerlichkeiten in die Öffentlichkeit kotzt, wünsche ich mir so ein richtig klassisches, ausgesprochenes politisches Bewusstsein zurück, um Menschen und Dinge besser erkennen zu können.
die Niceness der MANIE, Gespräch mit Ulf beim BLAU Fest vorgestern, Politik und Kultur, die explosive Expansivität seines aktuellen Moments
die Anerkennung des Anderen kommt nicht aus den Positionen, die er vertritt, sondern aus seiner Person, wie er ist als Mensch; das ist etwas Größeres als die Überzeugungen, obwohl sich die Persönlichkeit auch genau darin zeigt, wie er sich im diskursiven Feld bewegt, von welchen Allergien und Neigungen er da getrieben ist, wie trotzig, mitläuferisch, sachgerecht oder ängstlich er sich äußert
Das leichte Schlingern, angezeigt durch das »obwohl … auch«, ändert den grundsätzlichen Kurs nicht: Aussagen interessieren nicht aufgrund ihres Inhaltes, sondern bzgl. ihrer taktischen Fähigkeit und strategischen Funktion. Wie verhalten sie sich zu denen anderer Sprecher:innen? Welche Effekte erzeugen sie in der Öffentlichkeit? Wie definieren sie Persona und Relevanz des Autors?
Es wirkt einigermaßen bizarr, ausgerechnet beim alles verurteilenden Analyseboss Goetz mitansehen zu müssen, wie er die innere Qualität von Argumenten auf die hinteren Bedeutungsränge verschiebt. Was genau Poschardt sagt und schreibt: jo mei. Aufregend und besprechenswert sind die performative »Niceness der MANIE« und »die explosive Expansivität seines aktuellen Moments«, also wie der Schreiber es schafft, seine Position in der sozialen, und das heißt hier: verschriftlichten Öffentlichkeit auszubauen. Welche Scheußlichkeiten da konkret verlautbart werden: egal.
Gemeine Leser:innen sind von Haus aus kein Teil dieses von Redaktionen und anderen institutionalisierten Gatekeepern geführten Diskurses. Die irre Fixierung auf andere Schreibende als einzige relevante Leserschaft sieht nicht schön aus. Und Goetz könnte sich ja mal fragen, ob in der gedanklichen Vernachlässigung ungedruckter Leser:innen möglicherweise ein Hinweis darauf zu finden ist, warum er die klassische Textsorte »Roman« nicht so hinkriegt, wie er sich das wünscht. wrong, Seite 146:
Auf stumme Art muß im Roman eine Analyse des Lesens und des Lesers mitlaufen, deren Kohärenz Fiktion und Realität zusammenhält. Der Ort dieser Analyse ist der Sound des Romans. Er ergibt sich aus der dauernden dreifachen Spekulation des Autors auf den Leser, auf die Welt und auf die beide vermittelnde SPRACHE.