In meiner alten Wohngemeinschaft hing ein Plakat, dessen platten Ausruf ich hin und wieder zitiere: Wer lebt, stört. Die aktualisierte Version würde wohl lauten: Wer lebt, zerstört. Denn wer lebt, kann nicht nicht konsumieren – und jeder Verbrauch hat seine Kosten. Bekanntlich ist der Stoffwechsel reicher Westler:innen für einen riesigen Berg Abfall verantwortlich: Müll, CO2, Worte, so dass es am vorteilhaftesten für den Rest des Planeten wäre, gar nicht erst da zu sein. Weil das aber für die Lebenden nicht zutrifft, muss man sich im Sündenfall der Existenz einrichten – und das doch bestenfalls mit guter Laune.
Verzicht ist der Königsweg, um die selbstverursachten Belastungen runterzufahren. Nicht fliegen, das Auto stehen lassen, kein Fleisch essen, gebrauchte Sachen kaufen – die üblichen Verdächtigen. Und da wird es schwierig mit der guten Laune. Denn Verzicht bedeutet, etwas liegen zu lassen, das man eigentlich haben könnte. Das scheint Vielen offenbar nicht sehr attraktiv. »Mehr« zu haben ist besser als »weniger«, genauso wie »neu« einen besseren Ruf als »alt« genießt, insbesondere in Mode und Kunst.
Mehr ist mehr
Karl Lagerfeld, Lena Dunham, Jeff Koons, Guido Maria Kretschmer, Donald Rumsfeld, Mel Brooks, Mark Cuban, Robin Baum
Entsprechend wird die Forderung, etwas nicht zu tun oder nicht zu kaufen, als versuchter Eingriff in die persönliche Freiheit empfunden. Das gilt nicht nur für lieb gewonnene Verhaltensweisen, sondern auch für das, was man (noch) nicht hat. In beiden Fällen werden Verlustängste gekitzelt – im ersten die Angst, seine Gewohnheiten ändern zu müssen, im zweiten, sich nicht ändern zu können.
Hängt doch das Selbstbild an dem, was man hat und tut. Die Dinge sind beim Entwurf dieses Bildes zentrale Instrumente und Messwerkzeuge zugleich. Das Sein wie auch dessen Veränderung ist geknüpft an eine konkrete Form, mit der Zustand wie auch Wandel hergestellt und bestätigt wird:
Vor den Kleiderständern von Zara und H&M ging es den Leuten nicht so sehr um den Besitz, als um dieses Gefühl, das ihnen der Kauf neuer Dinge umgehend und mühelos bescherte: um ein Mehr an Sein.
Annie Ernaux, Die Jahre
Verzicht bedeutet, sich die durch Konsum eröffnete Chance auf dieses Mehr verbauen. Um das wettzumachen und den Wert des Weniger zu steigern, braucht es Strategien und Taktiken, die außerhalb des Konsums liegen. Der Ruf nach Verzicht fällt dann unter jene größere Ansage, die z.B. Peter Sloterdijk von Rilke abgeschaut hat: »Du musst dein Leben ändern.«
Ich bezweifle, dass Selbstgespräche unter Dichtern (Rilke mit Apollo-Büste) oder die Anempfehlung religiös grundierter Askese (Sloterdijk) – beides einsame, tendenziell sozialferne Praktiken –, so verlockend sind, dass sie massenwirksam adaptiert werden und auf planetarischem Level durchschlagen, aber wer weiß. Eine nochmal andere Frage ist, ob eine solche Welt voll strenger Asketen wünschenswert wäre.
An diesem Umwertungsversuch erkennt man zumindest, dass man, um die Attraktivität des Verzichts zu vergrößern, das Feld wechseln muss. Der Wert des Verzichts liegt jenseits des Konsums; wer seinen Befehlen, Versprechen und Gewinnen widerstehen will, muss sich anderweitig belohnen. Tief verankerte Automatismen sollen dadurch gekontert, ins Stottern bzw. zum Stillstand gebracht werden, indem man das Register wechselt und ihnen ökologische, psychohygienische oder spirituelle Motive entgegen hält.
Denn auf dem Markt selbst hat der Verzicht keine Form. Er benennt nur das Nichtstattfinden eines Ereignisses. Während jeder noch so kleine und banale Kaufakt den Konsum aktualisiert und validiert, bleibt der Verzicht als eine Äußerung im Markt unsichtbar, wird nicht gezählt. Erst als eine große Zahl von Nichtkäufen, die auch noch in einem bestimmten Bereich von jemandem aktiv beobachtet werden muss (wie sonst sollte man Nichtstattfinden bemerken?), wird der Verzicht als intentionale Geste wahrgenommen. Um dann gleich wieder als Problem eingestuft zu werden, nämlich als inakzeptable Verweigerung der Marktteilnahme.
Auf einem anderen sozialem Level wiederholt sich das Problem, indem es keine (positive) Form gibt, die den Verzicht als sexy erscheinen ließe. Im Vergleich zu den vielen Möglichkeiten, die der Konsum bietet, wirkt der Verzicht schwach. Kaum jemand wird im Small Talk sagen: „Ich hab mir schon wieder kein Auto gekauft“ oder „Meine Hose ist 5 Jahre alt“, um damit Distinktionsgewinne einzuheimsen. Solche Aussagen sind vielmehr stets davon bedroht, in einen moralisch überheblichen, anklagenden Tonfall zu verfallen, der sich nicht nur verquer über die Realität der Dinge hinweg zu setzen, sondern allen anderen den Spaß an ihnen zu verderben versucht. Denn schöner ist es ja, wie gesagt, Dinge zu haben und zu nutzen, über sie zu reden und sich so mit ihnen – und nicht gegen sie – über das richtige Leben auszutauschen.
Solange der Verzicht nicht als etwas Schönes, Erstrebenswertes erscheint, ist er bloß ein Bote des Unbehagens, das sich aus der Spannung zwischen persönlicher Notwendigkeit des Konsums und planetarischer Notwendigkeit des Verzichts ergibt. Unsere Ignoranz ist aber hinreichend groß, um dieses Unbehagen nur sporadisch in Schuld umzuwandeln – kurz fühlt man sich schlecht, macht dann aber weiter wie gehabt.
Schafft man es, den Verzicht in eine schöne Sache umzuwerten, führt er nicht zu Schuldgefühlen, sondern macht zufrieden. Da wir aber bisher keine Form gefunden haben, um ihn im Guten zu feiern, wird es vorerst bei persönlicher und kleingruppenasketischer Selbstdisziplin bleiben. Wir haben noch immer keine Idee, wie wir dem Giganten des Marktes als großes Kollektiv entgegen treten könnten.