Dies ist der zweite Teil einer losen Reihe über digitale Produkte. Teil 1: Medium und Ware
Sobald man den Fernseher einschaltet, läuft das Programm. Wir steigen sofort ein in die Bilder und Töne dieser einen riesigen Dauer-Sendung, die weder Anfang noch Ende zu haben scheint. Wie höflich erscheint demgegenüber das Smartphone, dessen Apps nach dem Entsperren unter der gläsernen Oberfläche geduldig darauf warten, berührt zu werden, bevor es losgeht.
Was auch auf diese Berührung folgen mag: die Bezeichnung »Application« zeigt an, dass es bei Smartphone-Programmen nicht nur um Information oder Unterhaltung gehen muss. Diese Funktionen bieten sie zwar auch an, darüber hinaus gibt es jedoch eine Vielzahl von Anwendungen im engeren Sinne, d.h. sie sind mehr oder weniger »nützlich«. Man kann »etwas« mit ihnen »machen«.
Offene und geschlossene Produkte
Diesen Funktionalitäten entsprechend kann man Apps grob in zwei Klassen unterteilen: offene und geschlossene Produkte. Die Kriterien für diese Unterscheidung ergeben sich aus dem Zweck, der Zeitverarbeitung und der Währung, mit der wir bezahlen.
Die User Experience von geschlossenen digitalen Produkten ist, aller Interaktivität zum Trotz, mit der von traditionellen Medien vergleichbar. Es geht um Kommunikation: die Zeitung, das Buch, der Fernseher sind geschlossene Systeme, ebenso wie Social Media-, Chat-, Nachrichten- und Spiele-Apps. Ich schaue Filme, sehe mir die Urlaubsbilder von Freunden an, höre Musik. Das Medium selbst ist der Anfang und das Ende unserer Aktivität, das Medium ist ihr Selbstzweck. Wir sind und bleiben in den Zeichen, befinden uns in Texten, Bildern und Tönen. Solange, bis wir die Geräte ausmachen oder beiseite legen.
Offene Produkte hingegen zielen auf ein Abseits der Kommunikation. Sie setzten Dinge in Gang: Essen bestellen, eine Reise buchen, das Taxi rufen, den Zug erwischen, Shopping. Ich »nutze« sie, um an etwas jenseits von Gerät und Gehirn zu kommen. Sie sind dabei selbstverständlich auch eine Form von Kommunikation – aber nur in der Hinsicht, dass sie eine Befehlskette anstoßen, an deren Ende ein nichtkommunikatives Ergebnis steht.
Mit Kommunikation bezahlen: Daten, Zeit und Werbung
Entlang dieser Unterscheidung entscheidet sich auch, mit welcher Währung wir ein digitales Produkt bezahlen und wie viel Zeit wir mit ihm verbringen.
Für geschlossene Produkte zahlen wir mit unserer Aufmerksamkeit und unserem Verhalten. Beide werden miteinander verrührt, um anhand dieser Daten ein Profil zu erstellen, das als Ziel für maßgeschneiderte Werbung genutzt wird.
Das Produkt ist in diesem Fall Kommunikation selbst. Social Media-Apps versuchen, uns in ihre Kommunikationsprozeduren hinein zu ziehen und diese zu befeuern, sie reichhaltig, attraktiv und unumgänglich zu machen.
In dieses Gewebe der Kommunikation wird die Werbung hinein gestrickt. Je länger wir uns in ihnen aufhalten, desto mehr Werbekontakte, desto besser das Profil (das zudem mit weiteren Informationen, die aus Browser und/oder Geräten abgemolken werden, verfeinert wird), desto wahrscheinlicher der Vollzug von Konsum. Entsprechend hungrig sind diese Produkte auf die Zeit, die wir ihnen schenken. Jede Minute bedeutet eine Werbefläche mehr, die unsere Augen findet.
Daher sollte es niemanden wundern, dass solche Produkte mutwillig suchterzeugend angelegt werden. Im Umkehrschluss darf jede:r halbwegs von Mediensucht Bedrohte (also alle) für jeden Stoppmechanismus dankbar sein, der geboten wird: das Kapitel im Buch, der Raum des Kinos, die Werbeunterbrechung im Fernsehen oder auch das Herz, mit dem man eine Direktnachricht quittieren kann, um die Konversation schadlos zu beenden.
Shut up and take my money
Offene Produkte – zum Shoppen, Messen, Wetter checken – haben in ihrer Nutzung hingegen einen klaren Anfang und ein klares Ende. Das liegt am hinreichend umrissenen Zweck, den sie erfüllen. Ich will etwas erledigen und öffne dazu eine App. Wenn das Ziel erreicht ist, schließe ich sie wieder. Fertig.
Bezahlt wird mit Geld. Entweder habe ich die App schon gekauft bzw. Inhalte abonniert (Wetter, Kamera, Spiele, Fitness) oder ich nutze die App mit der eindeutigen Bereitschaft, Geld auszugeben (Shopping, Essen, Urlaub, Zahlung an sich). Geld fließt ohnehin, die Werbe-Währung Aufmerksamkeit wird nicht zwingend benötigt.
Für das UX Design und dessen Ziel – User-Freundlichkeit und effiziente Nutzung – folgt daraus, dass mich die App möglichst schnell und reibungslos zu meinem Ziel bringen soll. Ich verbringe nur soviel Zeit mit ihr, wie für die Aufgabe absolut nötig ist.
Pragmatische Differenz
Es dürfte unschwer zu erkennen sein, dass die Unterscheidung von offenen und geschlossen Produkten ihre Lücken hat. Auf Shopping-Seiten wird einem dauernd nahegelegt, weitere Artikel in den virtuellen Warenkorb zu legen. Und wer hat sich noch nicht in der Unendlichkeit von Online-Rezensionen verloren, auf der Suche nach dem perfekten Artikel, um dann einfach irgendetwas zu kaufen oder die App frustriert und ratlos zu schließen?
Immerhin hilft die Unterscheidung beim groben Verständnis, womit man zahlt. Anhand von Zeit-Zielen und Währungen kann ich erkennen, welche Monetarisierungsstrategie ein digitales Produkt fährt und wie ich in den ökonomischen Kreislauf eingefügt werde.
Außerdem lässt sich mit ihr das eigene Medienverhalten beobachten und damit auch die Bedürfnisse, an die eine App anzudocken versucht. Die Umkehrfrage lautet logischerweise: Brauche ich das wirklich?
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