Werbung, die Lehre vom Guten?

In seinem Buch Das Gute in den Dingen versucht der Philosoph Emanuele Coccia, Werbung als moralischen Diskurs zu verstehen, als Imagination des guten Lebens. Was gewinnt man durch diese Sicht?

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In seinem Buch Das Gute in den Dingen versucht der Philosoph Emanuele Coccia, Werbung als moralischen Diskurs zu verstehen, als Imagination des guten Lebens. Was gewinnt man durch diese Sicht? Alles ernst nehmen und so handeln.


Werbung nervt, und das ist noch die milde Beschreibung. Sie folgt einem überall hin, labert einen dauernd von der Seite an und produziert ununterbrochen falsche Bilder. Weil wir diesen Zustand komplett verinnerlicht haben, fahren wir mühelos und automatisch eine Abwehrhaltung aus Desinteresse, Skepsis und Misstrauen hoch, wenn sich eine Werbung in unser Blickfeld schiebt. 

Eine Reklame wahrzunehmen ist wie eine Begegnung mit einer Person, der ich nicht vertrauen kann. Ich weiß, dass sie rein strategisch mit mir spricht. Das gibt ihr einen grundsätzlich unmoralischen Anstrich, im Sinne des Spruchs von Brecht, demzufolge erst das Fressen, dann die Moral kommt. Eben weil es nur ums Fressen, heißt: Verkaufen geht, ist hier kein Platz für eine vorurteilsfreie, absichtlose Frage nach dem Guten, Wahren, Schönen. Die Werbung will mich nur dazu kriegen, etwas zu kaufen.

Weshalb alles danach schreit, Werbung rundheraus abzulehnen. Andererseits wäre es naiv zu glauben, dass man derart unbeschadet an ihren Bildern, Sinnangeboten und Manipulationen vorbei leben könne. Vielleicht hilft es ja, den Blick auf sie zu verändern und von Defensive auf Offensive zu schalten.

Werbung als Moral-Revue der Gesellschaft

Werbung abzuwehren bedeutet zunächst mal ganz schlicht, sich selbst in den Mittelpunkt der Beobachtung zu stellen. Ich bin das Ziel der Werbung, diese versucht mich zu adressieren und bei mir ein bestimmtes Verhalten auszulösen. Ein antagonistisches Setting, ein Kampf zweier Positionen, bei dem ich die passive Opferrolle einnehme.

Der italienische Philosoph Emanuele Coccia macht nun in seinem 2017 auf Deutsch erschienenem Buch Das Gute in den Dingen den Vorschlag, das Thema mit einer Art Außenansicht in den Blick zu nehmen, indem er Werbung als „moralischen Diskurs“ betrachtet. Statt sich im Fadenkreuz der Werbung zu platzieren, schaut man sie sich als eine unendliche Reihung von Aussagen an. Anhand dieser Aussagen erzeugt die Gesellschaft laut Coccia nun laufend Vorschläge, um die Frage zu beantworten, wie das gute Leben aussieht. 

Jedes Produkt, jede Werbung trifft eine Aussage darüber, wie diese sich zur Welt verhält und warum eine bestimmte Ware gekauft werden soll. Wie entscheiden Sie? Nach dem Preis? Oder nach der Qualität? Gemäß der Bedingungen, unter denen sie hergestellt wurde? Oder nach den Lifestyle-Versprechen, die das Marketing aufgestellt hat?

Diese immer wieder getroffenen (Kauf-) Entscheidungen hinterlassen eine Unmenge von Spuren für die Forensik eines Lebensstils. An ihnen lässt sich ablesen, wie Sie leben, welcher Moral Sie folgen (nichts anderes versucht Big Data abzubilden). Laut Coccia geht es in der Werbung um „das Wissen vom Guten und Bösen“, und Sie als Konsument*in aktualisieren mit ihrem Kauf jeweils einen bestimmten Aspekt dieses Wissens. Denn natürlich wird innerhalb der Werbung darum gestritten wird, was das Gute und was das Böse sei.

Moral für alle

Ich sollte kurz erwähnen, dass Coccia die Werbung keinesfalls für den exklusiven Ort der Moraldiskussion hält. Sie ist aber einer der größten, vielleicht sogar der größte öffentliche Diskurs, an dem potenziell alle teilnehmen können. Denn sie diskriminiert ‚nur‘ indirekt – die beworbenen Produkte mögen nur für einen kleinen, vermögenden Zirkel erschwinglich sein.

Ich sollte kurz erwähnen, dass Coccia die Werbung keinesfalls für den exklusiven Ort der Moraldiskussion hält. Sie ist aber einer der größten, vielleicht sogar der größte öffentliche Diskurs, an dem alle teilhaben. 

Denn sie diskriminiert dabei ‚nur‘ indirekt – viele Produkte können nur von einem kleinen, vermögenden Zirkel gekauft werden. Die Werbung selbst, egal wofür, kann potenziell von allen gesehen werden, unabhängig von Bildung, Vermögen, Geschlecht, Rasse, Alter. Womit keineswegs unter den Tisch fallen soll, dass sie alle denkbaren Ungerechtigkeiten, Sexismen und Rassismen spiegelt, verstärkt, erfindet und in Umlauf bringt.

Beim hier diskutierten Punkt geht es einzig darum, dass trotz extrem unterschiedlicher Zielgruppen und Formen der Ansprache die Gestik der Reklame eine gewisse Konstanz beibehält. Alle werden von Werbung adressiert, niemand kann ihr entkommen.

Waren, die Verkörperung des Guten

Die Rückseite der Werbung bzw. ihr Inhalt sind die Dinge, die beworben werden. Coccia stellt fest, dass unsere Kultur „Gegenstände hervorgebracht hat, die an Vielfalt und Vielzahl in ihrer Geschichte ihres Gleichen suchen, und die die niedrigsten, gemeinsten und gewöhnlichen Objekte in Bezug auf Design und Herstellung mit einem Wert und einer Sorgsamkeit versehen hat, die in dieser Geschichte ebenso unvergleichlich sind.“

Werbung und Ware sind gewissermaßen zwei Seiten eines Codes, mit dem Produkte in immer neuen Zyklen hergestellt werden. Das unendliche Gespräch der Werbung über das Gute und das Böse führt in ständigen Schleifen zu immer neuen warenförmigen Objekten, die das jeweils Gute verkörpern. Jedes Produkt ist ein konkretes Ergebnis dieses Gespräches, d.h. eine Realisierung dessen, was als gut bzw. Gut erachtet wurde. Die Werbung zeigt dann wieder die fertige Ware, d.h. das Gute, „von dem alle erfahren“ sollen.

Damit sind die Güter die eigentlichen Boten des Guten. Die Werbung ist aber nicht nur der Ort, an dem sie gezeigt werden. Sie werden dort genauso gemacht, d.h. die Gegenstände werden erst durch die werblichen Bilder und Texte zu dem, was sie sind, zu Symbolen des Guten. Ohne Kontext, ohne inhaltliche Aufladungen und Zuschreibungen durch die Werbung wären sie bloß stumpfsinnige Gegenstände.

Sinnangebote für Dinge

Imagination statt Lüge, Haltung statt Nachahmung

Bleibt immer noch die Frage nach der strategischen Unaufrichtigkeit der Werbung, um zu verkaufen. Coccia beantwortet sie Frage recht lapidar mit der Bemerkung, dass „moralische Imagination oft ohne die Kategorie der Wahrheit auskommt und dass sie nie tatsächlich an das zu glauben braucht, was sie sieht oder sagt, um das Gute oder das Glück denken zu können“. Die Sache der Werbung besteht in einer „anderen, höheren Welt, die intensiver ist als diejenige, in der man sich befindet“. 

Die Werbung, anders gesagt, träumt das Gute und setzt es als Forderung in die Welt. Womit sie ein gewöhnlicher, wenn auch allgegenwärtiger Moralapostel wäre. Sie ist ein normatives Gebrüll neben anderen in der Welt (was Coccia selbstverständlich nicht in Abrede stellt, im Gegenteil).

Coccias Perspektivwechsel bedeutet dennoch eine kleine, aber folgenreiche Verschiebung. Denn wenn ich Werbung als Imagination begreife, vergleiche ich sie nicht mit einer Wahrheit, die durch die Werbung verzerrt wird. Ein mimetisches Problem – die korrekte Nachahmung der wahren Wirklichkeit – wird transformiert in ein Bündel anderer, neuer Probleme, die sich wesentlich besser diskutieren und bewerten lassen, z.B. politisch, ästhetisch oder ökologisch.

Die Frage lautet dann, wohin eine Firma mit ihren Waren möchte. Welchen moralischen Vorschlag macht uns diese Werbung und wie finden wir diesen Vorschlag? Wollen wir so jemandem etwas abkaufen? Die Frage bleibt, ob und wie gut dieses Produkt wirklich ist. ‚Wirklich’ meint aber nun nicht mehr, ob die Werbe-Aussage realistisch ist, sondern welche Haltung sie offen legt.

Die Werbung ist das Produkt

Das größte Problem an Coccias Idee ist, dass Werbung als Diskurs keine Verneinung vorgesehen hat. Sie ist gezwungen zu bejahren, wovon sie spricht und was sie zeigt. Ein echter Diskurs würde Kritik und Gegenpositionen bereitstellen – das ist hier nicht der Fall.

An der Stelle betritt der Konsument die Bühne. Man kann sich fragen: wie oft hat man, haben Sie ein Produkt gekauft, obwohl die zugehörige Werbung langweilig, nervig oder sogar abstoßend war? Es zirkulieren ja Behauptungen wie die, dass es keine schlechte PR gäbe. Genau das aber müssen die Konsumenten den Agenturen beibringen.

Die Neufassung lautet: die Werbung zeigt nicht nur ein Produkt, sondern ist Teil dieses Produktes. Gute, höfliche Werbung ist die minimale Anforderung (und natürlich die politisch korrekte Ware dazu). Wer sich nicht daran hält, kriegt mein Geld nicht. 

Und da ja all die Unternehmen und Agenturen so scharf auf Bewertungen und Kommentare sind: wie wäre es mal mit Feedback-Kanälen zum Werbeverhalten?