Digitale Produkte, dritter Teil. Davor: Teil 1, Medium und Ware, Teil 2, Kommunikation oder Dinge?
Der »User« ist ein leere Formel. Hinter ihm kann sich alles Mögliche verbergen, er gibt keine Auskunft darüber, um welche »Nutzung« es im jeweiligen Moment konkret geht. So dürfte es nicht verwundern, dass – wenn ich das richtig sehe – das Wort »User« im öffentlichen Sprachgebrauch nicht sonderlich weit verbreitet ist.
In unserem Verhältnis zu Medien sieht das anders aus. Wir kennen uns als Leser:innen, Zuschauer:innen, Hörer:innen, kurz: als Publikum. Zu dieser klassischen Rolle der Rezeption tritt bekanntlich seit einigen Jahren die der Produktion hinzu – wir können mittlerweile selbst Texte, Bilder und Filme in die digitale Öffentlichkeit einspeisen. Das hat die Gesellschaft mittlerweile begriffen und reflektiert es entsprechend.
Der Begriff des Users wird demgegenüber fast nur im professionellen ökonomischen Rahmen gebraucht, wo er das Objekt der Begierde ist. Unternehmer:innen, Produktmanager, Designer, Programmierer:innen, Marketing-Leute betreiben großen Aufwand, um »uns« zu verstehen – was wir wollen, wie wir uns verhalten und was sich daraus für die Entwicklung ihrer Produkte ableiten lässt.1 Der User ist ein Spezialist:innen-Thema, eine Perspektive, die für die großen Verbreitungsmedien (Spiegel, SZ, Zeit, BILD usw.) keinen Diskussionsbedarf nahelegt oder Erkenntnisgewinn verspricht.
»Nutzung«: Prä-Disposition und Kontext
Was an besagter Leere liegt. Es kann um alles Mögliche gehen: rezipieren, produzieren, kaufen, verkaufen uvm. Bei der Nutzung handelt es sich damit um eine Art Prä-Disposition, eine Vor-Ordnung.
Diese ist einerseits zeitlich zu verstehen: im Sinne der ultrasimplen Handlung, mit der man beispielsweise eine App öffnet, bevor es zum nächsten, »eigentlichen« Schritt geht, man also die Anwendung in Gang setzt.
In der Sachdimension geht es dann um die Nutzer:innen selbst, d.h. die persönlichen Kontexte, die das digitale Produkt umspielen. Wie fühlt man sich, was ist gerade los, was will man machen, warum könnte man ein digitales Produkt starten wollen? Genau darüber zerbricht sich die so genannte /User Experience Research/ den Kopf und versucht im Zuge dessen, ganz Ohr zu sein und vorgefasste Meinungen möglichst auszuschließen.
Die Frage der Nutzung ist um maximale Offenheit bemüht, um die mannigfaltigen individuellen Kontexte und Motivationen zu verstehen, damit sich das digitale Produkt optimal in die Umstände und Bedürfnisse einklinken kann.
Konsumwege, hochaufgelöst
Das macht den User zu einer ökonomischen Figur, die in höherer Auflösung als der gute alte Konsument erscheint. Während man beim Konsum mit vollzogenen Kaufentscheidungen rechnet, umfasst die Sicht auf den User vor allem die Vor- und Nachgeschichte des Konsums.
Die »User Journey« ist der ganze Weg des Konsums, die ökonomische /Experience/ als Geschichte ein Form gebracht. Auf diesem Weg ist der Kaufakt letztlich eben nur das: ein kurzer Akt an der Kasse. Die entscheidende Frage ist ja, wie es zu seinem Vollzug kommt, so dass die Anbahnung (Informationsarchitektur, Klickwege, Marketing) das eigentliche Thema ist. Und um die Leute an sich zu binden (und schlechte Bewertungen zu vermeiden), muss auch die postkonsumatorische Abwicklung optimiert werden.
Der Weg des Nutzers erscheint als langkettige Sequenz, die sich aus vielen Selektionen zusammensetzt. Das Ziel des UX Designs besteht darin, diese Selektivität zu begreifen und zu formen, um die Trägheit unserer „faulen Gehirne“ so zu nutzen, dass unser Wahrnehmen, Denken und Klicken den ökonomisch gewünschten Verlauf nimmt.
Neuer Name, alte Probleme
Die Figur des Konsumenten wird also im Nutzer neu verpackt. Neben der gesteigerten Komplexität, die damit einhergeht, ermöglicht dieses neue Etikett zudem die Umschiffung problematischer Assoziationen, die die alte Vokabel mit sich führt.
Die Worte »App, Anwendung, User« camouflieren selbstredend erstmal, was wir im Verhältnis zu einem Produkt sind: nämlich eben jene Konsument:innen. »Konsum« riecht jedoch nach old economy: handfeste Objekte, Industrie und Shopping Malls. Diese traditionellen Vorstellungen vertragen sich weniger gut mit dem Willen der new economy, mit dem Alten zu brechen (»disruption«2) und ein komplett neues Denksystem zu etablieren.
Angesichts der beschriebenen Neufassung der Konsument:innen braucht es tatsächlich ein neues Verständnis. Das beinhaltet allerdings nicht, dass man die alten Begriffe und die mit ihnen umschriebenen Problemfelder einfach vergessen sollte. Der Konsument als Markttreiber, als fadenscheinige Begründung für dubiose Geschäftspraktiken, als ökologischer Sünder oder als Konsumopfer wird in der Figur des Nutzers aufgehoben und bleibt uns also erhalten.
Der Weg führt über das Medium
Und weil es in dieser Reihe ja immer noch um die Verbindungen zwischen neuen und alten Medien – Bücher, Filme, Radio usw. – geht, sind wir wieder am Anfang. Wie erwähnt, war das Besondere des Web 2.0, dass es die Rezipient:innen in Produzent:innen verwandelte.3.
Der User beginnt als Konsument, sei es von Waren oder von Medien: wir lassen uns berieseln, ziehen uns Filme rein, schmökern Romane, bingen Serien. Dieser passiv angelegte Medienkonsum wird mit den neuen Medien ins Aktive gedreht, so dass die Masse der »Massenmedien« nicht mehr nur empfängt, sondern auch sendet und – lustiger Effekt am Rand – ihre amorphe Gestalt verliert, indem sie sich in Suböffentlichkeiten ausdifferenziert.
Der Weg verläuft also vom Medienkonsum über die Medienproduktion hin zur Mediennutzung. Sprachlich kassiert der Begriff des Nutzers die Differenz von Rezeption und Produktion. Mit Smartphone und App kann man vieles machen, aber was genau, verschwindet hinter dem Wort. Übrig bleibt nur die Leerformel der Nutzung selbst, als Bedienung der Geräte, die für Beobachter:innen keine qualitative Auskunft gibt.
- Disclaimer: ich selbst begebe mich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels in eine UX Design-Fortbildung, bin also ein Mini-Teil dieses Milieus
- Siehe erneut: Adrian Daub. Was das Valley denken nennt. 2020, S. 115 ff.
- Der Vollständigkeit halber: Andere haben selbstverständlich schon früher versucht, Rezeption als Produktion zu begreifen – auf Ebene von Aneignung und Umformulierung, als individuelle und kollektive Sinngebung. Von diesen Leuten kann man umgekehrt sehr gut lernen, dass nur in die Tasten zu hauen oder Bilder zu machen noch lange nicht bedeutet, im taktischen oder strategischen Sinne tätig zu werden. Siehe Michel de Certeau. Kunst des Handelns. 1988 (1980), sowie diverse Texte aus dem Cultural Studies-Umfeld
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