Annie Ernaux’ Warengeschichte des 20. Jahrhunderts

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Es klingt einigermaßen unmöglich, »die« Geschichte des Konsums schreiben zu wollen. Nimmt man das Wort beim Wort, ist Verbrauchen ein so fundamentales Tun, dass man gleich nach Stoffwechsel per se fragen kann. Wenn aber Vokabeln wie Konsumgesellschaft auftauchen, muss wohl irgendwas passiert sein.

Annie Ernaux erzählt in ihrem Roman Die Jahre eine Geschichte des Konsums, in der sie dieses irgendwas passiert nachzuzeichnen versucht. Aus der angenehm sonderbaren Perspektive einer »unpersönlichen Autobiographie«, die individuelle Erfahrungen in das Licht kollektiver Ereignisse stellt, fertigt die 1940 Geborene einen Bericht über die Evolution der Warenwelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Dieser Bericht ist oft ermüdend, eintönig und nicht immer originell – viele Stoßseufzer über den Irrsinn des Shoppings kennt man zur Genüge.

Das macht aber nichts. Erstens ist es einfach grandios, die gütertechnische Planierung der Welt im Rutsch eines Lebens inkl. all des aufkommenden Ekels nachzuverfolgen. Zweitens liefert Ernaux eine Art Vorgeschichte zur Informationsgesellschaft, die sich nicht mehr durch den Konsum von Dingen, sondern durch Zeichengebrauch auf einen neuen Begriff bringt. Und drittens illustriert sie, in welchem Zusammenhang Mangel, Überfluss und soziale Klasse stehen.

Die Geschichte ihrer Wahrnehmung der Dinge lässt sich grob in 4 Etappen einteilen:

  1. Mangel und Magie (in der Kindheit): »Die Produkte tauchten auf wie im Märchen, plötzlich und unerwartet.«
  2. Fortschrittsglauben: »Die Leute waren voller Zuversicht, sie glaubten, die Dinge würden ihr Leben verbessern.«
  3. Verdrängung des Politischen: »Der Überfluss an Dingen verbarg den Mangel an Ideen und die Abnutzung der Überzeugungen.«
  4. Vollständige Durchdringung: »Der kommerziellen Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Sie annektierte zu ihrem eigenen Profit sämtliche Sprachen… Sie war unsere Moral, Philosophie und die unhinterfragte Form unseres Lebens.«

Die Geschichte des Konsums läuft dabei parallel und im Kontrast zu Ernaux’ biographischer Geschichte, die einen sozialen Aufstieg beschreibt. Aus den berüchtigen »einfachen Verhältnissen« kommend, wird sie im Tagesberuf Lehrerin, während sie nebenbei – mal mehr, mal weniger – schreibt.

Wie arm ihr Elternhaus wirklich ist, wird nicht ganz klar – klar wird nur, dass die Frage nach Wohlstand alle im Dorf im Griff hat. Die Atmosphäre ist bedrückend, durchzogen vom Mangel und dem Wunsch nach seiner Beseitigung durch sozialen Aufstieg. Die Dinge sind rar und kostbar und dienen so als Messlatte für die soziale Stellung:

»Wie kann man die Wahrnehmung einer Welt beschreiben, in der alles teuer ist… Notwendige Überhöhung der Dinge. Und hinter allen Worten, denen der Leute, meinen eigenen, Neid und den Vergleich wittern… Ein andauernder, bodenloser Mangel.«

Annie Ernaux, Der Platz

Allgemeine Knappheit regiert den Blick – die niedrige Quantität der Dinge steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Bedeutung. Weil sie kostbar sind, eignen sie sich nicht nur dazu, den Wohlstand Einzelner zu messen, sondern leuchten im direkten Gegenüber die Erzählerin geradezu an:

Man hatte Zeit, sich die Dinge herbeizusehnen, das Federmäppchen aus Kunststoff, die Schuhe mit Kreppsohle, die goldene Armbanduhr. Ihr Besitz enttäuschte nicht. Man bot sie der Bewunderung der anderen dar. Die Dinge bargen ein Geheimnis, das sich nicht abnutzte, ganz gleich, wie oft man sie betrachtete und gebrauchte. Selbst wenn man sie schon länger besaß, erwartete man etwas Bestimmtes von ihnen, obwohl niemand wusste, was.

Annie Ernaux, Die Jahre

Das charmant Zwingende – oder Zufällige – an Ernaux’ Geschichte besteht darin, dass ihr »Wachstum«, d.h. sowohl Erwachsen-Werden wie auch sozialer Aufstieg, quasi-synchron mit dem Wachstum der Gesellschaft verläuft. Sie profitiert, wie alle, vom kontinuierlich anschwellenden Wohlstand.

Der Optimismus, der Fortschritt und die Freude, die sich mit den Waren verbinden, sind jedoch – zumindest im Rückblick der Schreibenden – nur von kurzer Dauer. Ganz der kulturkritischen Stanze einer linken Schriftstellerin entsprechend beginnt sie, den immer stärker um sich greifenden Konsum zu geißeln. Die Argumente sind bekannt wie zutreffend: Zügelloser Konsum wird zum Eigenwert, der nicht mehr nach dem Gebrauchswert eines Dinges fragt. Darüber hinaus besetzt der Konsum den Platz des Politischen, indem er die Selbstverständigung der Gesellschaft über das, was und wie sie sein will, durch seine »sanfte Diktatur« ersetzt.

Der eigene Aufstieg Ernaux’, ihr Wechsel in einer »höhere« Klasse, verändert quasi-automatisch ihren Blick auf die Dinge. Ihre fetten Jahre verschieben ihren Blick, der immer herablassender auf die kontinuierlich monströser werdende Welt der Waren schaut. Im Kontext des eigenen Mangels waren die Dinge noch ein persönliches Versprechen, während ihre massenhafte Verfügbarkeit ins Verderben führt.

So weit, so erwartbar – man hält sich selbst für besser und über den Dingen stehend, sobald man genügend von ihnen besitzt. Das weiß aber auch Ernaux. Zum einen sind da die Reflexionen über die Scham, die sie empfindet, weil sie ihren Herkunftsort verlassen hat – im örtlichen wie im ideellen Sinne. Sie verdächtigt sich, die Klasse ihrer Eltern verraten zu haben und nun mit der Arroganz der Arrivierten auf die weniger wohlhabenden, weniger gebildeten Menschen herabzublicken (dazu mehr in Der Platz). Diesen Konflikt kann sie nicht auflösen.

Zum anderen verwischt der zentrale erzählerische Twist des Buches die Unterscheidung zwischen den Gruppen der Kritisch-Aufgeklärten und den Konsumgläubigen. Denn in »dem, was sie als unpersönliche Autobiografie begreift, gibt es kein »ich«, sondern nur ein »man« oder »wir« – jetzt erzählt sie auch von früher.«

Ernaux verschwindet in der kollektiven Erzählperspektive des Wir und vermeidet damit schon rein sprachlich, eine auf den Pöbel herabschauende Intellektuelle zu sein: »Das Einkaufszentrum mit seinem Hypermarché und seinen unzähligen Geschäften wurde zum wichtigsten Ort unserer Existenz.« Und weil sie im Hauptberuf eben nicht Schriftstellerin, sondern Lehrerin und Familienmensch ist, gewinnt ihre Erzählung an zusätzlicher Glaubwürdigkeit. Die CDU würde sagen: sie schreibt aus der Mitte der Gesellschaft.

Der Trick dieses „Wir“ wirkt auf Dauer etwas wohlfeil, ermüdend und übergriffig, aber das geht als Teil der Strategie durch. Seine dauernde Wiederholung macht die Behauptung des kollektiven Empfindens seltsam wirklich und wirksam. So zieht sie in die Breite, was außerhalb des Buches, in der so genannten Wirklichkeit ja unbedingt zutrifft: Mit einem Bein sind wir voll im Konsum und genießen ihn. Mit dem anderen Bein treten wir drauf, weil der ganze Quatsch unsäglich nervt.

Was kommt in dieser Geschichte des Konsums nicht bzw. kaum vor? Kolonialismus, planetarischer Raubbau, Ausbeutung billiger Arbeitskräfte. Ihr bürgerlicher Blick ist ganz auf sich und die eigene Erfahrung der Konsumwelt fixiert, konzentriert sich auf die Raumnahme der Waren im Alltag. Das kann man kritisieren; man kann aber auch dankbar sein, einen derart thematisch geschlossenen Sub-Plot im Verlauf eines Lebens derart hingeblättert zu kriegen (das Buch ist von 2008, Ernaux also 68 zum Zeitpunkt der Veröffentlichung).

Was ebenfalls kaum Thema ist: die gegen Ende des 20. Jahrhunderts heraufdämmernde Selbstbeschreibung der Gesellschaft als Informationsgesellschaft. So schreibt z.B. der 20 Jahre ältere Vilém Flusser am Anfang der 90er:

»Unser existentielles Interesse verschiebt sich zusehends von den Dingen zu den Informationen. Wir sind immer weniger daran interessiert, Dinge zu besitzen, und immer mehr daran, Informationen zu verbrauchen… Die Dinge beginnen, in den Hintergrund unseres Interessenfeldes zu rücken.«

Vilém Flusser. Das Unding I

Der schöne Zufall will hier, dass Flusser die Vokabel des »Verbrauchens« auf Informationen anwendet. Konsum wäre demzufolge eine Praxis, die nicht nur Waren verstoffwechselt, sondern auch Zeichen. Ernaux’ Beobachtungen öffnen so eine ergänzende Lesart, die unser Haben-Wollen von Informationen mit dem von Dingen gleichschaltet. Die folgenden Sätze lassen sich wunderbar auf unseren Gebrauch von Informationen und Daten übertragen:

»Vor den Kleiderständern von Zara und H&M ging es den Leuten nicht so sehr um den Besitz, als um dieses Gefühl, das ihnen der Kauf neuer Dinge umgehend und mühelos bescherte: um ein Mehr an Sein.«

»Mittlerweile riefen neue Produkte keine Abwehr oder Begeisterung mehr hervor, sie beschäftigten nicht mehr die Fantasie. Sie gehörten einfach zum Leben dazu.«