Digitale Produkte I. Medium und Ware

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Dies ist der Auftakt einer kleinen Reihe über digitale Produkte, in der es um Schlagworte und Konzepte vor dem Hintergrund traditioneller audiovisueller Medien gehen wird. Teil 2: Kommunikation oder Dinge?

Nicht mehr nur empfangen, sondern auch senden: Vor zwanzig Jahren war das Neue an den neuen Medien, dass sie Rezipient:innen in Produzent:innen verwandelten. Das, was später »Social Media« heißen würde, generierte neue Öffentlichkeiten, in denen alle, die die technische Infrastruktur besaßen, ihren Senf hinterlassen konnten. Die digitale Durchdringung unseres Alltags, soll das andeuten, begann nicht mit den schon zuvor kursierenden Textverarbeitungsprogrammen oder Computerspielen, sondern mit Kommunikationsmedien.

Daran hat sich wenig geändert. Viele der Apps, die sich unseren Smartphones befinden, sind für Kommunikation zuständig – man denke an Social Media, Nachrichten, Chats und das gute alte Telefon. Hinzu gekommen sind in den letzten 10 Jahren immer mehr Apps, die weniger der Kommunikation dienen, sondern einen »handfesten« Nutzen haben: Essen bestellen, Tickets kaufen, Urlaub buchen, Rechnungen einsehen, Taxi rufen, die Wettervorhersage checken.

Praktische Medien

Man könnte sagen: Medien sind praktisch geworden. Und weil sie mittlerweile so praktisch und auch zahlenmäßig den Kommunikationsanwendungen überlegen sind, lässt sich leicht vergessen, dass es sich bei ihnen überhaupt noch um Medien handelt. Selbstverständlich geht es auch bei praktischen Medien immer noch um Kommunikation, ganz einfach in dem Sinne, dass sie Kommandozentralen sind, mit denen man Befehle erteilt, um o.g. Dinge geschehen zu lassen. Mich interessiert aber eher, wie das Praktische vom Medialen umschmeichelt wird, wie die alten Modalitäten in den neuen aufgehoben sind und weiterarbeiten, um uns in sie hinein zu ziehen.

Um ein besseres Bild von digitalen Produkten zu kriegen, ist es hilfreich, auf die alten Medien zu schauen – anknüpfend an das Diktum von Marshall McLuhan, demgemäß der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist.1 In der Sehnsucht nach »disruption« wird zwar gern behauptet, dass man solche Vergleiche gar nicht erst anstrengen solle, weil die Unterschiede zu groß seien. Man muss aber leider davon ausgehen, dass die Macher und Lautsprecher der neuen Medien „häufig auf diese Neuartigkeit [verweisen], um zu behaupten, die traditionellen Verständniskategorien würden der neuen Technologie nicht gerecht, obwohl sie in Wahrheit durchaus geeignet sind, um sie zu beurteilen.“ 2

Im Folgenden also drei Perspektiven auf Apps im Lichte der guten alten Medien, um abschließend drei daran anschließende Neuerungen digitaler Produkte herauszustellen.

Audiovisualität

Die erste Perspektive ist die naheliegendste: das Smartphone ist ein audiovisuelles Medium. Es handelt sich um ein Objekt, auf dem Texte, Bilder und Töne erscheinen, die für unsere Wahrnehmung und unsere Gehirne gemacht sind. Dieser Dreiklang aus Gerät, Zeichen und Körper bildet die materielle Basis, die mediale Grundordnung.

Das ist im Kern banal, aber insofern relevant, als sich die Attraktivität traditioneller audiovisueller Medien auf die digitalen überträgt und in ihnen fortsetzt. Kino und Fernsehen, haben wir erfahren und gelernt, sind schön, unterhaltsam, aufregend, tröstlich, informativ usw. Die Qualitäten und Assoziationen des Audiovisuellen werden in den neuen Kontext mitgenommen. So nüchtern eine App auch daherkommen mag: die sinnliche Freude am Medium wirkt in ihr weiter – und sei sie noch so heruntergedimmt.

Welt erfassen

Die zweite Perspektive betrifft das allgemeine Vermögen (meinetwegen auch die „Macht“) der Medien, unsere Auffassung der Welt und unsere Navigation durch den Alltag zu formatieren. Das obligatorische Zitat an dieser Stelle: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«3

Diese Aussage zielt auf das, was wir »Content« zu nennen gelernt haben: das, was als Sinn in besagten Texten, Bildern, Filmen, Tönen usw. auftaucht. Jedes Individuum verarbeitet diesen Sinn und die Sichtbarkeiten, die in ihnen aufscheinen, auf je eigene Weise. Was auch immer dabei rauskommen mag – daran vorbei kommt man nicht.

Buch, Kino, Radio, Fernseher, Facebook, Amazon, Tinder & Co sind also nicht bloß Instrumente, die uns unterhalten oder bei der Organisation unseres Daseins unauffällig zur Hand gehen. Sie bestimmen maßgeblich, wie wir die Lebensbereiche, in die sie eingreifen, überhaupt verstehen.

Produkte

Die dritte Perspektive ist die ökonomische. Programme, auf dem Fernseher wie auf dem Smartphone, sind Waren, die gehandelt werden. Diese trockene Sicht ist für die persönlichen Belange erstmal weniger spannend. Zugleich geht es hier aber um ein Feld in der medialen Landschaft, auf das man immerhin ein wenig Einfluss ausüben kann, indem man sich gegen schlechte Produkte entscheidet oder das eigene Verhalten ändert.

Die ökonomische Brille stellt die Frage nach dem Versprechen eines Produkts. Was ist sein Ziel, sein Wert, worin besteht seine Leistung? Unterhaltung, Information, Shopping, Sport, Zeitvertreib? Erneut: das mag ziemlich simpel sein. Aber wer sich selbst bei der Nutzung digitaler Produkte beobachtet, wird feststellen, dass diese Bereiche nicht so sauber voneinander zu trennen sind, wie man es vielleicht gern hätte.

Darauf folgt sogleich die Frage nach den Währungen, mit der wir das Produkt bezahlen. Klassischerweise sind das Geld oder Aufmerksamkeit (AKA Werbung), wobei sich beide bekanntlich miteinander kombinieren lassen – man denke an Zeitungen und Zeitschriften oder das US-amerikanische Kabelfernsehen.

Erwähnt werden muss, dass schon die Menge medialer Angebote dafür sorgt, diese kaum als Produkte wahrzunehmen. Wir sagen zwar: was für ein mieser Film. Kaum jemand wird aber daraufhin den Fernseher wegschmeißen – die Konsum-Routinen von Recherche, Kauf, Bewertung, Rückgabe etc. finden hier keine Anwendung. Das Produkt an sich wird nicht in Frage gestellt, sondern nur die jeweilige Instanz. Man gleitet einfach weiter zum nächsten Programm, ohne groß darüber nachzudenken, dass man eine Ware vor sich hat.

Digitale Erweiterungen. Interaktivität, operationales Wissen, Daten als Währung

Soweit also drei Charakteristika, die sich sich analoge und digitale Medien teilen.4 Zum Schluss seien drei Neuerungen digitaler Produkte erwähnt, die an die genannten Themen andocken und diese verschieben bzw. erweitern.

Interaktivität bedeutet, nicht mehr nur stillsitzend zu rezipieren, sondern auch zu produzieren. Statt nur mit Augen, Ohren und Hirn wahrzunehmen, können wir diverse Interfaces nutzen, um mit vormals untätigen Körperteilen in Medien einzugreifen (Touchscreen, Maus, Tastatur – um die üblichsten zu nennen).

Damit verbunden ist ein neues operationales Wissen, das über die Sinn-Angebote der Medien hinausgeht. Die Gestik der Maus- und Fingerbewegungen wird Teil unserer grundlegenden Motorik, mit der wir die Welt erschließen und bearbeiten.

Zu (un)guter Letzt generieren digitale Produkte neue Währungen aus diesem Verhalten. Wir zahlen mittlerweile dreifach: nicht mehr nur mit Geld und Aufmerksamkeit, sondern auch mit unseren Daten. Die auf einem Markt gehandelt werden, über den wir im Grunde nichts wissen.

  1. Marshall McLuhan. Die magischen Kanäle. Understanding Media. 1964
  2. Adrian Daub. Was das Valley denken nennt. 2020, S. 9
  3. Niklas Luhmann. Die Realität der Massenmedien. 1996, S. 9
  4. »Analog« hat hier logischerweise eine historische, keine technische Bedeutung. Auch Fernsehen ist mittlerweile digital.